JET LEG – Biennale der Kunst und Kultur
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Edition 2 München - Lothinger 13, Studio

Die zweite Projektphase und Ausstellung wurde mit der Unterstützung des Kulturreferat Münchens, dem Istituto Italiano di Cultura Italiano München, dem Akademieverein München, dem Bezirksausschuss Au-Haidhausen und Bogenhausen, dem Berufsverband Bildender Künstler München und Oberbayern (BBK), Fonds Soziokultur, von 20.08– 26.09 in München durchgeführt. Arbeits- Aktions- und Ausstellungsorte waren u.a. die Lothringer Halle 13 Studio, Import Export Mücnhen, das Künstlerhaus München Werkstatt, die Domagkateiliers München und die Streitfelds Ateliers. Die Ausstellung wurde im Rahmen von Various Others präsentiert.

Teilnehmer*innen: Ambra Viviani, Clarissa Baldassarri, Maria Positano de Vincentiis, Paolo Puddu, Pennacchio Argentato, Diego Miedo, Veli und Amos, Amelie Lihl, Benedetto Piscitelli, Dominik Wendland, Antonia Schlenk, Simon Mertl, Tobias Schulz, Fabian Feichter und Youlee Ku, Ilana Weinreich, Caitlin van der Maas, Mystic Choir Kollektiv.






Karusiäll Ausstellungsansicht







Ambra Viviani / So far, so good
Zinn, Eisen, Fernglas

Der Fokus unserer Wahrnehmung ändert sich, je nachdem wie wir uns den Dingen nähern. Wie wäre es, wenn wir verstärkt unseren Mund zur Welterfahrung nutzen würden? Würden wir alles intensiver erleben? Würden wir lieben, fühlen und schmecken wie Tiere?
Durch die künstlerische Arbeit werden wir auf eine andere Möglichkeit des Erlebens aufmerksam gemacht und eingeladen unsere Wahrnehmung zu schärfen und umzupolen. Viviani’s Werke erscheinen wie magische Portale, die uns wie Lupen vor unsere reizüberfluteten, müden Augen geschoben werden und uns einen Blick auf eine andere Realität gewähren. Eine Realität, die aber schon immer da gewesen ist, nur nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit.

Die Künstlerin geht in ihren skulpturalen Werken verschiedenen Perspektiven der Weltenbildung nach. Sie interessiert sich für magisches Denken und wie Sprache Realitäten kreiert.

Der Jet Leg ist wie ein innerer Zwiespalt zwischen dem, wie wir uns fühlen sollten und uns tatsächlich fühlen. Wir haben eine philosophische oder politische Sichtweise, die aber nicht mit unserem tatsächlichen Erleben übereinstimmt. Eine Frau möchte keine Kinder aufgrund des Klimawandels und verspürt dennoch den Wunsch nach Kindern. Ein Mann glaubt an die Ehe, verliebt sich aber in eine andere Frau und fühlt sich deshalb schlecht. Vielleicht erscheint von außen betrachtet alles fantastisch. Und trotzdem ist das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, präsent.






Clarissa Baldassarri / Fra l’in tra mezzo (Between the inbetween)
Videoprojektion

Was existiert in dem Raum und der Zeit zwischen Dingen, zwischen Menschen, zwischen Ausgangs- und Endpunkt?
Buchstaben bewegen sich kaum merklich. Wandern sehr langsam hin und her. Dabei ändert sich der Abstand zwischen ihnen. Mal ist er groß, mal klein, mal überlappen die Zeichen. Der Ursprungstext ist nicht zu entziffern. Es entsteht Unsinn.
Was passiert in Zuständen des Unsinns? Wenn die Dinge nicht mehr gewöhnlich ablaufen oder gehandhabt werden? Wenn sie aus dem normativen Handlungsrahmen ausbrechen? Die Künstlerin weist uns auf die unendlichen Möglichkeiten hin, die Dinge außerhalb von Regelsystemen zu betrachten. Baldassarri fordert uns heraus vermeintliche Grenzen zu überschreiten und den jenseitigen Spielraum zu erforschen.

In ihren Installationen beschäftigt sich Clarissa Baldassarri mit Formen von Raum und Zeit. Die Arbeiten definieren die Räume zwischen zeitlich und räumlich abgelaufenen Dingen. Dabei verwendet die Künstlerin stets unterschiedliche Materialien und Medien, die die Idee am besten visualisieren. Die Werke bewegen sich zwischen Ordnung und Unordnung. Dabei wird die Vorstellungskraft der Betrachter:innen poetisch gefordert.

Der Jet Leg tritt ein, wenn die eigene Komfortzone verlassen wird. Dazu muss nicht verreist werden. Er ist auch zu Hause erfahrbar, indem Zeit anders eingeteilt und an sonst wenig, anders oder nicht genutzten Orten verbracht wird.






Pennacchio Argentato / I’m safe and averything is good in my world
Epoxidharz, Glasfaser, Latex, Druck, Farbe

Ein Eisberg in Gesichtsform. Sehen wir die Natur oder den Kopf oder können wir uns auf beides konzentrieren? Gleichzeitig umweltbewusst und achtsam mit uns selbst sein?
Das Werk spielt mit den Widersprüchen unserer Zeit. Viele Menschen praktizieren unterschiedliche Methoden, die das eigene Wohlbefinden steigern sollen. Meditation, Yoga und Achtsamkeitsübungen stehen hoch im Trend. Doch oft führen die Bemühungen zu selbstausbeuterischem Verhalten. Die Selbstoptimierung bewirkt eine erhöhte Produktivität, die wiederum dem kapitalistischen System zu Gute kommt. Als Konsequenz führt die Mehrleistung einerseits zu Stress beim Menschen und andererseits zur fortschreitenden Zerstörung der Natur.
Wie können wir wirklich gesund mit uns selbst und unserer Umwelt umgehen? Im Einklang. Im selben Atemzug.

Das Künstler:innen-Duo beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit den Wechselwirkungen und Konflikten zwischen ungleichen Paaren, wie Körper und Geist oder Natur und Kapitalismus. Oft locken die Skulpturen durch ihre attraktive Ästhetik zu sich. Erst bei der Auseinandersetzung mit den Werken werden Vielschichtigkeit und Kritik deutlich.

Normalerweise arbeitet das Duo alleine im Studio. Während einer Residency mit anderen Künstler:innen den Arbeitsort zu teilen, fordert Anpassung und bringt Ängste mit sich. Wie kann ich bei mir und meinem Werkprozess bleiben? Sind meine Sachen in Sicherheit?






Maria Positano de Vincentiis / Twisting in Mercury
Papierzellstoff, Lebensmittelfarbe, Messig, gefundene Aste

Geschwungene Pfeile mit scharfen Spitzen zielen energiegeladen in unterschiedliche Richtungen im Raum. Kräfte sind spürbar, obwohl sich nichts bewegt. Eine visuelle Sprache, die an vergangene Zeiten erinnert und doch in der Gegenwart ihre Wirkung erzielt.
Teile der Installation erinnern an prächtigen Goldschmuck. Geschichten zu mächtigen Schönen und Reichen erscheinen vor dem inneren Auge, ebenso zu Zerstörung und bedrohlichen Kräften. Auch in der Materialwahl finden sich Widersprüche. So wechseln sich wertvolle und einfache, weiche und harte Materialien ab. Es entsteht ein Wirbel an Assoziationen.
Haben jene alten bedeutungsträchtigen Formen und Symbole heute noch dieselbe anziehende und ehrfürchtige Wirkung auf uns? In welchen Kontexten verherrlichen wir Objekte oder schreiben ihnen eine überirdische Bedeutung zu?

Die Künstlerin spielt in ihren Installationen, für die sie recycelte Materialien verwendet, mit existierenden Ikonographien und unserer Beziehung zu Objekten, wobei sie neomythologische Welten erschafft.

Im Dauerzustand des kulturellen Transits geht es ständig um Adaption und darum, für sich selbst bedeutende Erfahrungen zu machen. Doch oft scheint es unmöglich, sich zu adaptieren. Der Körper kommt nicht hinterher. Er ist es leid, sich zu bewegen, zu reagieren. Er ist übersättigt. Nicht nur an das Außen muss sich angepasst werden. Auch Körper und Geist müssen sich stets wieder einpendeln.






Paolo Puddu / Untitled
Stahl

Die vom Balken hängenden Objekte erscheinen bekannt und doch irritieren sie.
Sie wirken wie gigantische Fahrradschlösser. Aber sie verfehlen ihre Funktion. Durch ihre Größe und aggressive Präsenz im Raum fordern sie uns heraus, uns ihnen zu stellen.
Eines der Schlösser wirkt wie eine exakte Vergrößerung. Das andere ist stark verbogen.
Die Farben der Schlossenden erinnern an die von Sicherheitswesten oder Helmen, die oft von Bauarbeiter:innen oder Fabrikarbeiter:innen getragen werden. Doch spätestens seit der Gelbwestenbewegung in Frankreich (gilets jaunes) werden die Farben auch mit Bürgerprotesten in Verbindung gebracht.
Der Künstler spielt mit mehreren Bedeutungsebenen. Gedanken zu Sicherheit und Schutz kommen auf, aber auch zu Gewalt und Revolte.
Etwas absperren, damit es sicher ist. Dabei geht es immer um das Abgrenzen von persönlichen oder öffentlichen Räumen. Aber wer oder was wird vor wem oder was geschützt? Schutzmaßnahmen können nicht selten bedrohlich wirken. Vor allem wenn unterschiedliche Interessensgruppen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen.
Wie weit gehen wir, um Schutz zu gewährleisten oder zu brechen?

Paolo Puddus Arbeiten bewegen sich zwischen Skulptur, Design und Architektur. Dabei bettet der Künstler Alltagsobjekte in die vorgegebene Architektur ein und ändert deren Funktion durch unterschiedliche Strategien. Die Werke werfen stets politische und soziale Fragen auf.

Der Jet Leg lebt in Künstler:innen. Sie sind ständig unterwegs. Was bedeutet zu Hause?






Veli & Amos






Diego Miedo






foto : Florian Huth, Danilo Bastione
texte : Ilana Weinreich






KARUSIÄLL

Langsamer Start ohne Reißen, ein Ritt bergauf, schnelle Karussells.

Hauptdrehbewegung, beliebtes Karussell für junge Liebhaber. Zentripetalkraft.
Mechanisches Organ, Zentrifugalkraft, eine Runde bergauf.
Schnelle Karussells.

Um Energie und Zeit zu sparen, könnten wir daran denken, alles wegzulassen.

Der Kreis der sich drehenden Gondeln stößt mit dem Teleskopkran zusammen, der Körper wird am Morgen entfernt und das Karussell fährt weiter.

Mystische Karussells und zeitgenössische Mythologie des Unterhaltungsgedankens. 

Eine Unterhaltung, die Jahre der Verzweiflung in der Vorhölle produziert, wo die Aufgabe darin besteht, zu erstaunen, nicht zu überraschen.

Die Menschen fliegen weg, einige halten sich fest. Gebrochene Knochen. Besondere Karussells.

Natürliche Mechanismen, vom barocken Spiel bis zur experimentellen Spirale. Aufwendige Ornamente und üppige Dekorationen. Enjambement, das den Code bricht.

Verwirrung, Tourbillon, Wirbelsturm, Wirbel.
Langsam auf- und abfahrende Karussells auf ihrer Rundstrecke, statische Wagen und Sicherheitsgitter.
Ein nostalgischer Stil, oft im Hintergrund.
Wie alt ist das Karussell? Markt- und Ausstellungsmuseum.

Ein selbstfahrendes Kunstwerk, das aus echten Tieren besteht, die an ein Seil gebunden sind und sich um eine Stange drehen.
Oszillationserholung.
Die Künstler stellen aktive Tiere mit müden Seelen dar, Emanationen einer alten Kultur.

Kleines Lächeln blinken auf Gesichtern.
Ein Spiel, das sich selbst vergisst, in einer ständigen, ziellosen Bewegung, in der die gleichen Bilder wiederkehren.
Die Farben lösen sich von den “Dingen” und verschmelzen mit dem Karussell, das sich immer schneller, aber ziellos im Kreis dreht.
Die Blicke gehen irgendwohin, darüber hinaus… aber sie erreichen ihr Ziel nicht.

(D.B.)